Auf der Jagd nach dem Glück (IV): Wo man Gelassenheit lernt – ein Leben mit Schildkröten

Lilly und der Joghurtbecher

Sie sind stumm, sie reagieren kaum und sie verschwinden im Winter in der Erde – warum Menschen trotzdem diese Reptilien über alles lieben

Von Klaus Podak

München, 8. August 2003 – Die Sonne brennt gemein heiß. Johnny rennt trotzdem mit einer Geschwindigkeit durch das Gras, als hätte Jenny nach ihm verlangt. Vor ein paar Minuten botanisierte er noch gelassen in seinem Gehege herum, zupfte sacht ein paar Löwenzahnblättchen. Die waren kühl. Kamen ja auch aus dem Kühlschrank. Dann hob Karin Schippan Johnny hoch und setzte ihn auf die Wiese, aus der dieser große Garten fast ganz besteht. Ein paar Apfelbäume in der Nähe der Hecke gibt es auch noch. Weiße Klaräpfel liegen im Schatten auf dem Boden. Aber wegen der Äpfel rennt Johnny nicht. Denn Karin Schippan hat auch Jenny auf die Wiese geholt und noch eine andere Schildkrötenfrau. Diesen beiden Mädels rennt Johnny hinterher, wie besessen. Es ist die uralte Geschichte. Als die drei an einem Apfel angekommen sind, geht es plötzlich sehr gesittet zu. Sie stärken und erfrischen sich gemeinsam. Dann trennen sich ihre Wege. Johnny verschwindet neugierig irgendwo in Heckennähe. Die Schildkrötenmädels ruhen sich rund um die Äpfel aus.

Schildkröten in dieser Umgebung bei ihrem ruhigen Lebenslauf zuzusehen, das erzeugt auch im Gemüt des beobachtenden Gastes Gelassenheit, sogar etwas, das wir getrost Seelenentspannung nennen können. Vielleicht sind wir mit dieser Erfahrung ja schon einer Antwort auf die Frage auf der Spur, die uns mit Hilfe des Internets zu Karin Schippan geführt hat: Warum allein in Bayern mehr als hunderttausend Menschen ihr Glück suchen in der Gesellschaft solcher Reptilien – Schildkröten gehören, zoologisch gesehen, zu den Reptilien –, die stumm sind, die sich um Menschen nicht zu kümmern scheinen, die sich, in unseren Breiten jedenfalls, in der kalten Jahreszeit ein paar Monate in die Erde verziehen und unsichtbar Winterruhe halten, ohne die Fürsorge ihrer Besitzer zu vermissen.

Im Internet hatte Karin Schippan freimütig berichtet, dass sie so ungefähr 70 Schildkröten in Freigehegen halte, dass sie sich schon seit 35 Jahren mit Schildkröten beschäftige, dass ihre Schildkröten im Keller und im Kühlschrank überwintern würden. Schildkröten, dachten wir, sind ihr Leben. Oder doch ein großer, ein wichtiger Teil ihres Lebens. Mit 70 Schildkröten ist man schließlich nie allein. Kann man da überhaupt je woanders, fern von den stummen Reptilien, Urlaub machen?

Die blanke Neugier also hat uns in diesen Garten bugsiert. Am Telefon war Karin Schippan erst einmal ein bisschen misstrauisch, als wir ihr sagten, wir würden gern sie und ihre Schildkröten kennen lernen und etwas über die Faszination erfahren wollen, die von den lautlosen Reptilien ausgeht. Sie erklärte ihr Zögern später mit der Befürchtung, unerwünschte Besucher könnten den Schildkrötengarten auskundschaften, um später Tiere zu stehlen. Wenn man ihr wunderbares Biotop am Rand der Großstadt besucht hat, dann findet man das gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Auch böse Menschen wollen ein Stück vom Glück.

Sohn Robin hat inzwischen den unternehmungslustigen Johnny wiedergefunden und zurückgebracht. Der Kröterich bekommt auf dem Tisch vor dem kleinen Holzhaus ein Häppchen Löwenzahn. Nach kurzem Geknabber untersucht er die Tischplatte in der deutlichen Absicht, sich wieder davonzumachen. Also ab ins Gehege. Er ist es zufrieden. Und wir versuchen, der Faszination der Schildkröten auf die Schliche zu kommen.

Aber erst einmal: Wie hat das angefangen und wann? Karin Schippan war vier oder fünf Jahre alt, da wünschte sie sich ein Tier ganz für sich allein, am liebsten einen Hund oder eine Katze. Die Wohnung der Eltern in Milbertshofen lag im dritten Stock, nicht so gut für Hund oder Katze. Der Vater schlug eine Schildkröte vor. Die kostete auch nur 3 Mark 50, damals. Es war Johnny, eine griechische Landschildkröte der Art Testudo hermanni boettgeri, was Karin damals natürlich noch nicht wusste. Auch dass Johnny ein Johnny war, wusste noch keiner. Denn es ist für Anfänger nicht ganz einfach, Schildkrötenmann und Schildkrötenweib als solche zu identifizieren. Johnny hieß Lilly. Erst als Lilly begann, Joghurtbecher auf dem Balkon zu vergewaltigen, ging der Familie ein Licht auf: ein männliches Wesen. Also Johnny, der eben noch auf dem Tisch saß. Sie sind zusammen groß und erwachsen geworden, sind ungefähr gleich alt, Johnny und Karin Schippan.

Am Anfang war es oft ein bisschen langweilig für das Kind mit diesem Tier, mit dem man nichts zusammen unternehmen konnte. Aber dann kam ja die Winterruhe. Schildkröten sind wechselwarme Tiere wie alle Reptilien. Sie heizen ihr Blut nicht selbst auf, brauchen Wärme und Licht zum richtigen Lebendigsein. Wenn es kalt wird, schalten sie um auf Sparflamme ihres Stoffwechsels, tauchen ab, verkriechen sich, graben sich irgendwo ein. Doch dann das Aufwachen. Karin Schippan erinnert sich noch gut an die Freude, die aufkam, wenn Johnny sozusagen wieder lebendig wurde in der Wärme des Frühlings.

Hoffnung und Zuversicht

Vielleicht haben wir jetzt, mit der Erinnerung an dieses sich Jahr für Jahr wiederholende Ereignis, einen Teil für die Erklärung der Faszination durch Schildkröten erwischt. Es ist, auf zugegeben heidnische Weise, ein Spiel von Tod und Auferstehung, das man da erlebt. Erstarrt, eingegraben, dann lebendiges Hervorkommen im Frühling wie die Blätter an den Bäumen, wie die Blumen im Garten. Aber noch mehr als Blumen und Blätter – ein Wesen, das sich selbstständig bewegt, das reagiert, das fressen will und auch ein bisschen unternehmungslustig, ja abenteuerlustig ist. Ein Wesen, das so lebt, verkörpert wortlos Hoffnung und Zuversicht. Es zeigt, dass es immer wieder einen neuen Anfang geben kann. So drückt Karin Schippan das nicht aus. Aber auf diese Weise kann man doch die Begeisterung eines Kinds verstehen, das einem monatelang verschollenen Gefährten wieder begegnet. Und dieser Gefährte ist lebendig wieder vorhanden, verlangt Aufmerksamkeit, Zuwendung, Pflege.

Bald nahm Karin Schippan Johnny mit auf Spaziergänge in den Englischen Garten. Da war noch ein anderes Bedürfnis wach geworden. Das Tier Johnny sollte sich in natürlicher, heute sagt sie „artgerechter“, Umgebung bewegen können. Wenn ein Kind von selbst auf diese Idee kommt, dann hat sich das, was wir heute Ökologie nennen, die Lehre von Zusammenhängen in der natürlichen Lebenswelt, wie von allein durch tägliche Erfahrung ergeben.

Damals geschah auch das, was Karin Schippan noch heute eine Sünde nennt. Dem Johnny wurde ein Loch in den Panzer gebohrt, damit man da einen Bindfaden als Leine festmachen konnte. Wer wusste damals schon – viele Schildkrötenhalter wissen es heute noch nicht –, dass der Schildkrötenpanzer, der so unverwundbar aussieht, lebendiges Gewebe ist, durchzogen von Nerven und Blutgefäßen. Er kann bluten, wenn er verletzt wird. Er leitet Schmerzen. Ein Loch, das gebohrt wird, ist eine Wunde. Johnnys unschuldig angebrachtes Loch ist auch heute noch nicht wieder ganz zugewachsen.

Weshalb wir noch andere Fachleute gefragt haben, Spezialisten, die lustvoll beruflich jeden Tag mit Schildkröten und anderen Reptilien zu tun haben. Professor Rudolf Hoffmann und sein Mitarbeiter Doktor Markus Baur sind weithin bekannte Reptilienkundler und Tiermediziner an der Uni München. 1200 bis 1300 Reptilien behandeln sie jährlich stationär in ihrem Institut in der Kaulbachstraße, darunter 700 Schildkröten, ungefähr 2500 Reptilien ambulant. Zu unserem Gespräch kommen die beiden von einer Alligator-Operation. Sie haben die Auffangstation für Reptilien gegründet, die, fast wie ein Maskottchen, den gefährlichen Eugen beherbergt, die Schnappschildkröte aus dem Dornacher Weiher, die einst die Boulevard-Presse in Aufregung versetzte.

Baur holt Eugen aus dem Wasser. Der sperrt sofort seinen Schnabel auf. Hielte man ihm zutraulich den Finger hin, Eugen könnte ihn mit einem Schnapper abbeißen. Also keine Rede davon, dass alle Schildkröten total harmlos seien. Als wir dann im Café plaudern, sagen Hoffmann und Baur gleich, welches die grundfalschen Vorurteile über Schildkröten sind: Sie seien einfach, bescheiden und stellten keine großen Ansprüche. Wildtiere, sagt Baur, sind das, auf die man sich einstellen muss. Hebt ein Fremder einfach eine Schildkröte hoch, dann erlebt die das als Bedrohung und sucht sich zu wehren. Wer sie um sich haben will, muss ihnen auch einen Lebensraum schaffen. Das kostet Geld und Zeit.

Und die Faszination, das Glück? Baur, der Wissenschaftler, sagt, faszinierend sei das Detail. Vieles an und in den Schildkröten sei noch völlig unbekannt. Die Glücksbringer, als die sie in vielen Kulturen weltweit seit Jahrhunderten verehrt werden, sind auch den Wissenschaftlern im Grunde noch fremd. Hoffmann drückt das so aus: „Sie haben eine andere Schriftweise, die wir nicht lesen können.“ Schildkröten, diese uralten Geschöpfe, gab es schon, bevor es Menschen gab. Und es wird sie wohl noch geben, wenn es keine Menschen mehr gibt.

Vielleicht, wir denken an Johnny, besteht auch darin ein Geheimnis des Glücks, das wir durch diese Schildkröten erfahren können: In Gemeinschaft zu leben mit Wesen, die uns immer fremd bleiben werden, die aber das Gefühl in uns wachrufen, dass wir zusammengehören. Über Grenzen hinweg.

Mit 18 Jahren zog Karin Schippan zu Hause aus. Auch für Johnny sollte ein neues Leben beginnen. Artgenossen sollten her, Weibchen. Wie die Natur so spielt: Es kam zur Begattung. Die Weibchen legten Eier. Aus den Eiern schlüpften kleine Schildkröten. Die mussten versorgt werden. Ohne es geplant zu haben war Karin Schippan zur Schildkrötenzüchterin geworden. Wenn die Kleinen drei bis vier Jahre alt sind, also aus dem Gröbsten raus, wie man bei Kindern sagen würde, verkauft sie auch welche. Aber nur in gute Hände, betont sie. Und nur, wenn es Gehege im Freien gibt.

Ein Kühlschrank voller Erde

Augenblicklich leben 60 Schildkröten verschiedenen Alters auf dem Gelände, das sie eigens für ihre Schützlinge angeschafft hat. Aber da ist noch mehr dazugekommen. Zehn Bienenvölker schwirren herum. Und wegen der vielen Schnecken hat sie zwei Indische Laufenten angeschafft, die tatsächlich unermüdlich hin- und herlaufen und dabei ihren sechs Entenküken die Schneckenjagd beibringen. Auch einen schwarzen Hasen (oder ist es ein Kaninchen?) hat sie in Pflege genommen. Viel Arbeit, viel unauffälliges Glück. Urlaub? Karin Schippan lacht. Urlaub macht sie bei den Tieren. Im Sommer wohnt sie im Garten.

Und wie war das mit dem Winter, dem Kühlschrank, dem Keller, von denen wir gelesen haben? Der Kühlschrank ist ein Campingkühlschrank, gefüllt mit Erde, vier bis sechs Grad Celsius hat er im Winter, gerade richtig für die 30 kleinen Schildkröten, die sich da einbuddeln können. Die großen kommen in den Erdkeller unter dem Holzhäuschen. In einem normalen Keller wäre es zu warm für die Winterruhe.

Was ist besonders wichtig, wenn man Schildkröten als Gesellschaft haben möchte? Karin Schippans Antwort ist knapp. „Das Wichtigste“, sagt sie, „ist Sonnenschein und karge Nahrung.“ Es ist kaum zu glauben, was bei der Nahrung alles falsch gemacht werden kann. Zu viel Eiweißhaltiges zum Beispiel. Man erkennt das gleich, wenn eine Landschildkröte so komische Höcker auf dem Panzerrücken hat. Was man nicht sieht, ist die Nierenkrankheit, die sie auch noch hat. Sie lebt dann auch nicht lange. Dabei gelten Schildkröten als Symbole der Langlebigkeit. Die schwer gepanzerten Tiere sehen so ungeheuer stabil aus. Sie sind aber auf ihre Art so empfindlich wie alle anderen Lebewesen auch. Man muss sich schon eine ganze Menge Wissen zumuten, wenn man Schildkrötenglück erleben will.

Das Geheimnis der Tiere

Und wie ist das nun mit der Faszination, mit dieser merkwürdigen Anziehungskraft der stummen Reptilien? Schon andere Besitzer haben uns etwas vom Kindchenschema erzählt und den niedlichen Kulleraugen. Ganz kann man das nicht glauben, auch ist davon auf manchen dieser Tiergesichter nicht viel zu finden. Karin Schippan spricht noch vom Eindruck der Harmlosigkeit, der wohl besonders auf Kinder überspringt. Schildkröten hätten nichts Erschreckendes. Sie strahlten eher etwas Sanftes aus. Was wirklich das Geheimnis dieser Tiere ausmacht, ist wohl nur sehr schwer in Worte zu fassen. Aber wortlos teilt es sich unmittelbar mit. Das haben wir an diesem Nachmittag im Schildkrötengarten von Karin Schippan und Johnny mitbekommen. Da stimmt einfach alles.

Es ist wie mit dem Glück selbst. Man spürt, wenn es da ist. Aber eine Definition, die ein für alle Mal den Nagel auf den Kopf trifft, gibt es nicht.

 

Copyright-Vermerk: Hiermit bedanke ich mich bei der Süddeutschen Zeitung

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